1. Tag des neuen Jahres


Das Leben beschenkt uns oft.
Mit ganz besonderen Momenten.
Mit Momenten, in denen die Last vieler Jahre verständlich wird.
Mit Momenten, in denen die vielen Zweifel, Ängste und Nöte plötzlich eine ganz besondere Leichtigkeit erhalten.
Es ist das Ergebnis einer Verwandlung. Von einer Raupe zu einem Schmetterling.
Die Geburtsstunde des Schmetterlings nennen wir dann Glückseligkeit. Oder Erfüllung.
Gestern schrieben wir den 31.12.2022. Das Ende des ersten Kriegsjahres. Das fast Ende einer Krankheit, die unser aller Leben mehr oder weniger auf den Kopf gestellt hat.
Es darf wieder gesungen und gefeiert werden. Selbst mit Menschen die alt sind und sich in den Heimen durch die letzten Meter (oder Zentimeter) ihres Lebens quälen.
Ich stehe in einem großen Speisesaal. Die Wände kahl die Tische sind dekoriert. Mit Girlanden, mit bunten Papierhütchen und kleinen Knallbonbons. Im großen Aquarium schwimmen die Fische ruhig durch ihre kleine Welt. Die Bewohner kommen. Jeder sucht sich seinen Platz. Es gibt Streit.
„Nein, ich sitz immer hier!“
Ich beobachte. Es gibt Kaffee und einen Berliner. Das Puderzucker schminkt einige Gesichter nach seinem Geschmack. Hier die Nase, da der Mund, dort die Stirn.
Langsam wird es ruhig.
„Einen schönen guten Abend möchten wir Ihnen wünschen!“, rufe ich und wir beginnen mit der Musik.
Die Wahl des ersten Liedes war vortrefflich, denn es wird sofort mitgesungen.
„Tanzen möcht´ ich, jauchzen möcht´ ich…“
Mit jedem Ton, mit jedem Atemzug füllt sich der Raum mit Leben und verleiht den Augen Glanz, den Wangen Röte.
Wir singen. Weiter und weiter.
„Tanze mit mir in den Morgen…“
Ein altes Ehepaar betritt den Saal. Er grüßt uns freundlich. Sie lächelt. Sie tippelt unsicher an seiner Seite. Vorsichtig begleitet er sie zum Tisch. Sie möchte sich setzen, doch die Musik weckt Erinnerungen. Ihre unsicheren Beine wollen tanzen. Er reagiert sofort. Nimmt sie zärtlich in den Arm und führt sie behutsam. Die Tanzschritte sind nur noch Schatten ihrer selbst. Er schaut sie an. Streichelt sie. Gibt ihr einen Kuss auf die Wangen. Sie lächelt zurück. Still. Ihr Blick und ihr Lächeln sagen: Ich liebe Dich! Ich singe aber mein Blick haftet auf diesem Wunder. Ich bin zutiefst ergriffen. Unsere Zeit läuft langsam ab. Wir müssen weiter. Eine Etage höher. Wohnbereich 2. Dort warten die nächsten auf uns.
Das Wunder begleitet mich. Es beschäftigt mich. Es wühlt in meinem Leben. Es sucht einen ganz besonderen Lebensabschnitt. Es sind die Jahre des verbitterten Suchens nach dem Sinn meines Lebens. Es sind die Jahre des Zweifelns. Es sind die hageren Jahre. Jahre in denen ich nur eines wusste: es muss einen Weg jenseits der gut betonierten, glatten und breiten Straße geben. Den eigenen.
Es sind die Jahre der ersten Schritte auf meinem Weg.
Es sind die Jahre, die mehr Leid als Glück brachten. Doch das Wunder nimmt jetzt diesen Jahren die Last. Dankbarkeit durchströmt mich. All die Jahre, all mein Suchen, all mein Zweifeln hatten plötzlich einen Sinn. Schlagartig begreife ich: ich habe den schönsten Beruf. Dafür hat sich jede Entbehrung gelohnt. Nein, ich bin nicht berühmt und auch nicht reich an Geld. Eigentlich bin ich sogar arm und ziemlich erfolglos. Ich singe nur in Altenheimen für alte Menschen.
Aber genau darüber und deswegen bin ich glücklich.
Und unendlich dankbar.
In diesem Sinne wünsche allen ein erfülltes Jahr 2023.

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