Der summende Saal


Ich sitze in einem großen Saal. In einem Heim.

Es ist voll hier. Viele Menschen sind gekommen. Sie sind neugierig. Wollen wissen und sehen, was heute auf sie zukommt.

Open Stages.

So lautet die heutige Veranstaltung.

Es ist die Idee eines Kulturvereines. Menschen, ob jung oder alt, haben die Möglichkeit, ihr Können zu zeigen.

Der Veranstaltungsort wechselt immer. Mal in einer Schule. Mal in einem Gemeindesaal.

Heute findet es hier statt. Im Heim. Für alte Menschen.

Im Saal sitzen überall die Bewohner des Hauses. Mitten unter ihnen Kinder. Kleine Kinder, etwas größere und die Eltern der Kinder. Es ist ein unbekanntes Gefühl geworden. Für die Bewohner. Sie sitzen heute mitten im Leben.

Die Veranstaltung beginnt.

Die Bühne betritt als erstes der hausinterne Chor. Alte Menschen, gefangen in die heimlichen Gesetze ihres erfahrenen Körpers, singen mit brüchiger Stimme ein Volkslied. „Die Gedanken sind frei“. Viele Kinder singen mit. Denn sie lieben Volkslieder. Dann kommt der generationsübergreifende Chor. Kinder einer Grundschule und Bewohner des Hauses singen vom grünen Kaktus und vom Tüddelband. Junge Mädchen bauen nun flink die Bühne um, damit sie ihren gekonnten Stepptanz vorführen können. Danach öffnet die alte Bühne noch kaum gelebten Füsschen den Weg. Kleine Mädchen, keine älter als fünf, in niedlichen rosa Kleidchen und Strumpfhosen streicheln mit ihren Tanzschrittchen die stumme Bühne. Das Publikum schmilzt. Ein Orchester der Musikschule betritt die Bühne. Das Klavier darf auf seinen Tasten zarte Kinderhände empfangen.

Die Noten ergeben bekannte Lieder. Lieder, die jeder kennt. „Geh´aus mein Herz und suche Freud´“; „Freude schöner Götterfunken“.

Die Leute singen mit. Summen mit.

Ob jung oder alt.

Es ist kein großes, lautes Ereignis. Nein. Es ist fast nicht hörbar. Dieses stille Aufeinandertreffen.

Von jung und alt.

Von Mensch auf Mensch.

Aber es ist unverkennbar da. Das einander Sehen. Ohne Augen.

Ich glaube, ich habe gestern einer meiner schönsten Weihnachtsfeier erleben dürfen, auch wenn es noch nicht soweit ist. Denn auch Weihnachten hat seine Zeit. Einen ganzen Tag im Jahr. Und der Rest?


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