„So fuhr ich weinend und voller Zweifel zum Flughafen. Ich hatte Angst. Angst vor dem Urlaub und Angst vor meiner Rückkehr. Für einen kurzen Moment dachte ich sogar, ich sollte doch lieber umdrehen. Doch dann dachte ich an Juttas Worte und versuchte standhaft zu bleiben. Wenigstens bis ich im Flugzeug saß, denn da gab es kein Zurück mehr. So flog ich in meinen hart erkämpften Urlaub.
Kennen Sie die Insel Madeira, Larry? Nein? Man nennt sie auch die Blumeninsel. Da müssen Sie unbedingt einmal hin! Diese Insel ist einfach wunderschön. Ich stieg aus dem Flieger und ich war sofort verliebt. In die laue Luft, in die starke Sonne, in die besonderen Bäume, die fröhlich singenden Vögel…in einfach alles. Es gab nichts, was mir hier nicht gefiel.
Ich blieb zehn Tage in Funchal. Wissen Sie Larry, diese zehn Tage waren mein gesamtes Leben. Ja. Sie wundern sich? Aber ich sage die Wahrheit. In diesen zehn Tagen Larry, hatte ich mein Gesicht wieder gefunden. Ich las viel und ich fing sogar wieder an meine Gefühle, meine Empfindungen in Worte zu fassen. Ich schrieb wieder. Nach so vielen Jahren!
Ich fühlte mich frei und stark. Ja, ich war, wie es die deutsche Sprache so schon sagt: Selbst-bewusst. Ich war mir bewusst.
Vielleicht verreisen Menschen genau aus diesem Grund so gerne. Vielleicht ist jede Reise ein Versuch sich wieder näher zu kommen, das verlorene Gesicht wieder zu finden. Sie brauchen keinen Tapetenwechsel, sondern sie versuchen die Tapete abzureißen, damit sie das Original, das sich drunter befindet wieder erkennen können. So auf jeden Fall erging es mir.
Ich begann mich wieder zu fühlen. Mich, jenseits meines Scheinlebens und Schattendaseins neben Friedrich. Mein Gesicht warf erstaunlicher schnell die traurigen Schatten meines falschen Lebens von sich und erstrahlte in Glück und Freude.
Verstehen Sie Larry, ich war mitten im Leben. Mitten in meinem Leben. Und so geschah, was geschehen musste. Ich lernte einen anderen Mann kennen. Nein, natürlich hatte ich so etwas nie vor. Nein. Ich hatte schon genug Probleme mit Friedrich! Wozu dann noch ein Problem? Doch ein anderes Leben verlangt einen anderen Partner. Juan war ein Mann, mit dem ich mich von der ersten Sekunde an blind verstand. Wie aus dem Nichts tauchte er gleich am zweiten Abend meines Aufenthaltes auf.
Ich werde diesen Tag und diesen Augenblick nie vergessen. Es war sowieso ein magischer Tag. Gleich nach dem Frühstück eilte ich zu dem kleinen gemütlichen Laden, den ich schon am Abend vorher für mich entdeckte. Ich wusste, was ich wollte. Etwas, was ich schon lange nicht mehr besass. Etwas, was ich schon seit Jahren aus meinem Leben verbannt hatte. Ein Notizheft. Dies Heftchen sollte ein Zuhause für all meine Ideen werden.
Ich weiß noch, wie ich das knallgelbe Heft in meinen Händen hielt und am liebsten laut losgelacht hätte. Ich war außer mir vor Freude! Es war wieder soweit. Meine Ideen und Gedanken haben zu mir gefunden und ihr jahrzehntelanges Schweigen gebrochen. Ich schrieb sie alle nieder. Alle.
Den Tag verbrachte ich im wunderschönen botanischen Garten. Der Garten selbst ist nicht groß, aber ich verbrachte dort, beseelt vom Duft der Bäume und Blumen, viele Stunden. Ich atmete die Weite und Freiheit tief ein. Gierig, wie ein abgemagerter und ausgehungerter Tiger wollte ich einfach alles, was meine Augen sehen, meine Nase riechen, meine Ohren hören konnten einfangen und verschlingen. Ich war gierig nach dem Leben, nach meinem Leben.
Am späten Nachmittag dann saß ich mit einem Notizheft in einem kleinen Café gleich unten an der Uferpromenade. Ich mochte dieses Café, denn es hatte Charme. Die Tische und die Stühle waren in ihren Formen und Farben unterschiedlich.
Kein Tisch passte zum Stuhl und kein Stuhl zum Tisch, keine Form, keine Farbe zur anderen. Auf dem ersten Blick konnte man meinen, die ganze Stadt hätte hier ihre Tische und Stühle entrümpelt. Doch kam man näher, erkannte man die Liebe zum Detail und das fantastische Spiel der Formen und Farben. Alles passte. Alles zeugte von wissender Hand, von kennenden Augen.
Ich setzte mich an einen olivgrünen runden Tisch auf einen tiefrotfarbenen Stuhl und begann das bunte Treiben der Touristen und Einheimischen zu studieren.
Die Menschen zu beobachten gehörte schon immer zu meinen Lieblingsbeschäftigungen. Als junges Mädchen saß ich oft in einem alten Café direkt neben der Universität und sah den Anderen bei ihrem Leben zu. Ich erfand Geschichten zu ihnen. Gab ihnen Namen, Wohnung, Familien, Probleme.
Auch jetzt studierte ich ihr Verhalten, versuchte anhand ihrer Bewegung, ihrer Frisur, ihrer Bekleidung herauszufinden, wer hier geboren und wer nur zu Besuch auf der Insel war. Das war keine schwere Aufgabe, denn die Touristen konnte man schon von Weitem erkennen. Ich staunte, denn bis zu meinem Urlaub wusste ich gar nicht, dass die Touristen so etwas wie eine Einheitsbekleidung tragen.
Und dann…dann fielen meine Augen auf einen Mann. Ich war von seinem Erscheinen wie gebannt. Er passte in kein Muster. Er trug einen hellen Lainenanzug, dazu passende Schuhe. Sein ganzes, lächelndes Gesicht zeugte von Ruhe, sein Gang von vollkommener innerer Gelassenheit. Nein, er war kein Tourist, darin war ich mir sicher, aber für einen Einheimischen sah er einfach zu elegant, zu fein aus. Und außerdem hatte er blonde Haare.
Je näher er kam, desto mehr glaubte ich, diesen Mann schon zu kennen. Es war, als hätten wir uns genau zu dieser Stunde, an diesem Tag hier verabredet. Er kam direkt auf mich zu, strahlte mich mit seinen leuchtenden, dunkelbraunen Augen an und fragte etwas, was ich nicht verstand.
Ich glaube, er muss schon von weitem bemerkt haben, dass ich meine Augen nicht von ihm nehmen konnte. Ich war von seinem eleganten Erscheinen so geblendet, dass ich nur ein einfaches „Guten Tag“ stotterte. Von meinem scheuen mädchenhaften Verhalten amüsiert fragte er nun in deutscher Sprache:„Guten Tag schöne Senhora, darf ich mich zu Ihnen setzen?“