Das Eisenbahngleichnis, Gedicht von E. Kästner


Das Eisenbahngleichnis

Wir sitzen alle im gleichen Zug

und reisen quer durch die Zeit.

Wir sehen hinaus. Wir sahen genug.

Wir fahren alle im gleichen Zug.

Und keiner weiß, wie weit.

 

Ein Nachbar schläft. Ein anderer klagt.

Der Dritte redet viel.

Stationen werden angesagt.

Der Zug, der durch die Jahre jagt,

kommt niemals an sein Ziel.

Wir packen aus. Wir packen ein.

Wir finden keinen Sinn.

 

Wo werden wir wohl morgen sein?

Der Schaffner schaut zur Tür hinein

und lächelt vor sich hin.

Auch er weiß nicht, wohin er will.

Er schweigt und geht hinaus.

 

Da heult die Zugsirene schrill!

Der Zug fährt langsam und hält still.

Die Toten steigen aus.

Ein Kind steigt aus. Die Mutter schreit.

Die Toten stehen stumm

am Bahnsteig der Vergangenheit.

 

Der Zug fährt weiter, er jagt durch die Zeit

Und niemand weiß, warum.

Die I. Klasse ist fast leer.

Ein dicker Mann sitzt stolz

im roten Plüsch und atmet schwer.

Er ist allein und spürt das sehr.

 

Die Mehrheit sitzt auf Holz.

Wir reisen alle im gleichen Zug

zur Gegenwart in spe.

Wir sehen hinaus. Wir sahen genug.

Wir sitzen alle im gleichen Zug.

Und viele im falschen Coupé.

E. Kästner

Leave a comment

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert