A oder B


Hier eine kleine Kostprobe aus der Umwandlung des Heimgeschichten-Buches zum Sachbuch. Die Geschichten bilden das Herz eines jeden Kapitels.

A oder B – Wenn Geld die Ethik und unsere Menschlichkeit bedroht

In vielen Berufen, insbesondere in der Pflege und Betreuung, wird die Zeit, die wir mit Menschen verbringen, oft in finanziellen Kategorien gemessen. Diese Art der Bewertung ist jedoch nicht nur eine Bedrohung für die berufliche Ethik – sie stellt auch unsere Menschlichkeit und die Werte unserer Gesellschaft auf die Probe. In einer Welt, die immer mehr nach Effizienz und Profit strebt, entsteht ein gefährlicher innerer Konflikt: „Warum tue ich das? Aus echtem Mitgefühl oder aus wirtschaftlichem Kalkül?“ Dieser Konflikt offenbart nicht nur persönliche Dilemmata, sondern auch die gesellschaftlichen Strukturen, die solche Entscheidungen notwendig machen. Unsere Integrität wird dabei immer wieder herausgefordert, und es ist wichtig, innezuhalten und sich zu fragen, was wirklich zählt – und warum unser gesellschaftliches System solche ethischen Konflikte überhaupt erst erzeugt.

 

Lassen Sie mich dazu eine Geschichte erzählen die mir als Betreuerin widerfahren ist und die meiner Meinung nach diesen inneren Konflikt gut beleuchtet. Die Geschichte wirft grundlegende Fragen über Ethik, Selbstreflexion und die Bewahrung unserer Integrität auf, insbesondere in einer Welt, in der Zeit als Geld betrachtet wird und das Menschliche komplett in den Hintergrund zu rücken droht.

A oder B

A ist eine Abkürzung und steht für 15 Minuten Betreuung.

B ist auch eine Abkürzung und steht für eine halbe Stunde Betreuung.

A bringt weniger Geld als B. Unser Ziel ist somit klar.

Ich sitze in einem Zimmer und unterhalte mich. Ich betreue. Ich lausche den Worten dieser Frau. Neugierig. Ich möchte alles wissen. Alles. Sie redet. Erzählt. Ich lausche. Hingebungsvoll. Ich bin bei ihr. Ich bin Teil ihres Lebens. Ihrer Freuden. Ihres Leides. Doch plötzlich erstarre ich.

Was war das? Was ist das? Ein Gedanke, mächtig und hinterlistig, bringt mein Herz zum Erfrieren. „Soll ich länger bleiben und ein B daraus machen?“ Ich kämpfe gegen diesen Gedanken. Doch er raubt mir meine Aufmerksamkeit. Immer wieder tönt es: „Soll ich länger bleiben und ein B daraus machen?“ Ich schäme mich.

Ich bleibe, aber ich weiß nicht warum. Aus Interesse? Aus Gier? Die Welt dreht sich. Ich suche den Abschied. Zögernd stehe ich auf. Nach einer halben Stunde. Taumelnd gehe ich zur Tür.

Auf dem Flur stehen ein paar Schritte entfernt ein Tisch mit zwei Stühlen. Ich muss mich setzen. Was war geschehen? Was war das? Das kann nicht sein! Das darf nicht sein! Tränen rollen mir über das Gesicht. Ich höre Schritte. Sie sind noch weit entfernt, doch sie kommen in meine Richtung. Ich springe auf. Mitarbeiter dürfen nicht sitzen. Ich wische mir die Tränen vom Gesicht. Die Schritte kommen immer näher. Ich komme ihnen immer näher.

Ah, du bist es. Na, wo warst du?“
„Ich war bei Frau Hase. Eine halbe Stunde.“
„Toll! Dann kannst du B eintragen!“
„Ja, das mache ich.“, sage ich stolz.

Diese Geschichte zeigt einen Moment, in dem berufliche Ehik und persönliche Einstellung auf die Probe gestellt werden. Es ist ein Moment des Innehaltens, der Selbstreflexion, in dem wir uns fragen müssen: Handle ich aus ehrlichen Gründen? Und warum ist es so schwer heute eine richtige Entscheidung zu treffen bzw. dieser treu zu bleiben?

Mögliche Botschaften der Geschichte

  1. Selbstreflexion und Bewusstsein: Es ist wichtig, sich regelmäßig die Frage zu stellen, warum wir etwas tun. Handeln wir aus echtem Interesse am Menschen oder lassen wir uns von äußeren Faktoren wie Geld oder Zeitdruck beeinflussen?
  2. Der wahre Wert der Zeit: In Berufen, die mit Menschen zu tun haben, sollte die Zeit, die wir mit jemandem verbringen, nicht nur in Geld gemessen werden. Zeit ist ein Geschenk, das wir anderen geben, und es sollte aufrichtig und mit vollem Herzen geschenkt werden. Wenn jedoch gesellschaftliche Strukturen die Menschlichkeit in der Pflege auf Kosten der Effizienz opfern, müssen wir uns fragen: Was ist uns als Gesellschaft wirklich wichtig?
  3. Ethik im Berufsleben und gesellschaftliche Verantwortung: Unternehmen und Institutionen müssen sicherstellen, dass ihre Strukturen und Anforderungen ethisches Handeln fördern und nicht behindern. Es ist von zentraler Bedeutung, dass die Menschen, die in der Pflege und Betreuung arbeiten, die Möglichkeit haben, ihrer Arbeit mit Integrität nachzugehen, ohne durch wirtschaftliche Zwänge kompromittiert zu werden. Aber auch die Gesellschaft als Ganzes muss sich fragen, wie viel ihr Menschlichkeit wirklich wert ist – und welche Rolle Geld in der Pflege spielen sollte.

Eine mögliche Lösung wäre: Ethik und Menschlichkeit im System verankern

Um aus diesem Dilemma herauszukommen, müssen wir sowohl als Gesellschaft aber in erster Linie als Individuen aktiv Veränderungen anstreben:

  1. Ethik als zentraler Wert in der Pflegeausbildung: Pflegekräfte sollten bereits in ihrer Ausbildung intensiv in ethischen Fragestellungen geschult werden. Diese Schulungen sollten nicht nur auf Theorie basieren, sondern auch praktische Beispiele und Reflexionsmöglichkeiten bieten, wie sie mit Situationen wie in „A oder B“ umgehen können. Ziel sollte es sein, ethisches Handeln fest in den Alltag der Pflege zu integrieren.
  2. Strukturen, die Menschlichkeit belohnen: Pflegesysteme sollten so gestaltet werden, dass Menschlichkeit und ethisches Handeln nicht nur möglich, sondern belohnt werden. Anreize könnten beispielsweise darin bestehen, dass nicht die Anzahl der erbrachten Leistungen honoriert wird, sondern die Qualität der Betreuung und das Wohlbefinden der Patienten. Zudem könnten ethische Komitees eingerichtet werden, die Pflegekräfte in schwierigen Situationen beraten und unterstützen.
  3. Gesellschaftlicher Wandel durch Bewusstseinsbildung: Es bedarf einer breiten gesellschaftlichen Diskussion darüber, was Menschlichkeit in der Pflege bedeutet und wie wir diese in unserem System fördern können. Öffentlichkeitskampagnen und Bildungsinitiativen könnten dazu beitragen, ein größeres Bewusstsein für die Bedeutung von Menschlichkeit und Ethik in der Pflege zu schaffen.
  4. Individuelle Verantwortung und gemeinschaftliches Handeln: Jeder von uns hat die Verantwortung, diese Themen in seinen Alltag zu integrieren – sei es als Pflegekraft, als Angehöriger oder als Bürger. Gleichzeitig sollten wir uns für Veränderungen einsetzen, die es ermöglichen, dass ethisches Handeln nicht nur eine individuelle Entscheidung bleibt, sondern durch strukturelle Veränderungen unterstützt wird.

Abschlussgedanken

Die Geschichte von „A oder B“ fordert uns dazu auf, innezuhalten und nachzudenken. Sie erinnert uns daran, dass unsere Integrität und ethisches Handeln in jedem Moment unseres beruflichen Lebens geprüft werden können. Aber sie fordert uns auch auf, die gesellschaftlichen Strukturen zu hinterfragen, die solche Prüfungen notwendig machen. Es liegt an uns, diese Prüfungen zu bestehen, indem wir uns bewusst machen, warum wir tun, was wir tun, und indem wir sicherstellen, dass unsere Handlungen mit unseren Werten übereinstimmen. Denn am Ende des Tages geht es nicht nur darum, wie viel Zeit wir investiert haben, sondern wie wir diese Zeit genutzt haben – und zu welchem Zweck. Indem wir Ethik und Menschlichkeit in den Mittelpunkt unserer Pflegekultur und unseres Leben stellen, schaffen wir eine Grundlage für eine Gesellschaft, die ihre älteren Menschen nicht nur betreut, sondern auch wirklich wertschätzt.

So befremdlich es auch klingen mach: Menschlichkeit muss wieder an Attraktivität gewinnen. Menschlichkeit braucht Zeit und genau aus diesem Grund wird sie überall gekürzt oder ganz gestrichen. Die Frage ist nur, wo soll das noch hinführen?

 

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