Die Blicke der anderen


Was wäre, wenn es Sie nicht gäbe?

Wenn Sie plötzlich Luft wären? Unsichtbar?

Was wäre, wenn man durch Sie hindurchschauen könnte?

Was wäre, wenn Sie keiner wahrnehmen könnte.

Dabei gäbe es Sie aber!

Wie abhängig sind Sie von den Augen der anderen?

Richten Sie Ihr Leben nach den Augen der anderen?

Leben Sie ein Publikumleben?

Moral: Hüten Sie sich vor dem Blick der anderen, denn sie nähren, wenn Sie nicht wachsam sind, Ihr falsches Gesicht und stürzen Sie in Gefahr.

 

Die Blicke der anderen

Es war ein Morgen wie jeder anderer.

Stolz auf ihre Schönheit stand Ruselka vor ihrem Spiegel und bewunderte sich. Ja, sie war stolz auf sich. Warum auch nicht? War sie doch die Schönste weit und breit. Jeder, der sie sah, staunte und bewunderte sie. Ruselka war aber nicht nur schön, sondern auch klug. Womit ich nicht sagen möchte, dass sie auch intelligent war. Das eine begingt nicht unbedingt das andere. Das sollte man wissen.

Stets war sie die beste Schülerin, stets galt sie als Vorbild. Alle suchten ihre Nähe. Jeder wollte in ihrem Glanz baden, wollte vom süßen Honig schlecken. Ja, Ruselka war mit ihrer glanzvollen und makellosen glatten Biographie mehr als zufrieden.

„Was kann ich heute machen, damit die Leute mich noch mehr bewundern?“

Diese reizende Frage stellte sich Ruselka jeden Morgen. Nicht laut und auch nicht unbedingt bewusst. Nein, diese Frage glich eher einem süßen Duft, der sich ausbreitete und all ihre Gedanken betörte. Stets erfand sie etwas, womit sie die Blicke der anderen auf sich lenken konnte. Mal war es eine sehr besondere Frisur, mal ein besonderes Kleid, mal eine besondere Brille. Die Vorfreude auf die Blicke der anderen beflügelte einfach ihre Phantasie. Natürlich nicht bewusst.

Heute entschloss sie sich für ihr schönstes rotes Kleid.

Ruselka bereitete sich auf ihren alltägliches Erscheinen vor. Gleich würde sie mit ihrem schönsten roten Kleid die Straße betreten und sofort die gesamte Aufmerksamkeit auf sich ziehen.

Gut gelaunt, ihrem großen Erfolg vollkommen sicher, betrat sie erhobenen Hauptes die von Menschen überfüllte Straße. Das war ihr Publikum. Diese Augen sollten ihr sagen: „ Du bist die Größte! Du bist die Beste!“ Doch was war geschehen? Schon die ersten Schritte auf der großen Bühne blieben ohne Hall. Keine Augen ruhten auf ihr. Keiner bewunderte ihre Schönheit. Nein, die Menschen gingen an ihr vorbei. Einfach so. Einfach so als gäbe es sie gar nicht.

Ruselkas leichten, federnden Schritte wurden unter der Last des fehlenden Beifalls immer hölzerner. Ihre größten Verbündeten, die Augen der anderen, wurden zur unerträglichen Last weil sie sie mieden.

„Das kann nicht sein!“, dachte Ruselka und: „Man kann mich doch nicht übersehen! Ich bin doch Ruselka!“

Empört versuchte sie sich noch größer zu machen. Sie ging aufrechter als aufrecht. Jeder sollte sie sehen müssen! Doch so sehr sie sich auch mühte, die Augen der anderen wollten ihrem Befehl nicht gehorchen.

Es war das erste Mal in ihrem schönen Leben, dass sie es nicht mehr schön fand. Je länger sie sich auf ihrer gestern noch so geliebten Bühne bewegte, desto unscheinbarer kam sie sich vor. Dieses Gefühl steigerte sich sogar so weit, dass sie sich bald nur noch wie Luft fühlte. Ja, wie Luft. Ruselka wurde zu Luft.

Innerlich erschöpft und niedergeschlagen, äußerlich selbstsicher und heiter betrat Ruselka das Büro. Ihre letzte Hoffnung. Hier würde man sie sehen müssen. Hier hat sie das Sagen.

„Guten Morgen“, rief sie, aus Angst die anderen könnten ihre Niederlage aus ihrer Stimme lesen, einen Tick zu fröhlich. Doch was war geschehen? Ihre Begrüßung blieb unbeantwortet. Aber warum? War sie zu leise? Sollte sie es lauter versuchen?

„Guten Morgen!“, schrie Ruselka in den Raum. Eine Antwort kam aber trotzdem nicht.

„Luft, ich bin nur noch Luft!“, dachte Ruselka traurig.

Aber Ruselka wäre nicht Ruselka, wenn sie jetzt aufgeben würde. Diese Schmach wollte sie nicht länger ertragen müssen. Nein! Als erstes aber musste sie den morgigen Tag abwarten, denn dann würde sie sicher etwas finden, womit sie an ihre Blicke der anderen herankäme.

Der Tag schlich erstaunlich langsam vorbei.

Am Abend lag Ruselka von der Wucht ihres Luftlebens erdrückt im Bett und überlegte:

„Was kann ich morgen machen, damit ich wieder gesehen werde? Wie entkomme ich diesem schrecklichen Leben als Luft?“

Ideen hatte sie keine. Gar keine. Ruselka wurde immer unruhiger, denn sie wollte diesen heutigen Tag nicht wiederholen. Dann schlief sie ein.

Der nächste Morgen sollte so werden, wie jeder anderer.

Doch das wurde er nicht. Nein, er blieb sich seiner treu und wartete, wie es die Morgende oft tun, mit einer bösen Überrachsung auf sie.

Ruselka stand wie immer vor dem Spiegel. Sie wollte sich, wie an jedem anderen Morgen, bewundern. Allerdings hatte, wie ich schon sagte, dieser Morgen sein wahres Wesen entdeckt, und so stand Ruselka zwar vor dem Spiegel, doch dieser bot ihr heut´ein grauenvolles Bild. Ruselka schaute entsetzt auf das Bild, dass ihr der Spiegel bot. Was waren das für hässliche Haare? Und was waren das für kurze Beine? Und überhaupt fand sie ihren Körper extrem unproportional.

Doch was war geschehen? Ist Ruselka tatsächlich plötzlich über Nacht hässlich geworden? Ist alles, was sie gestern noch so lobenswert fand, über Nacht verschwunden? Nein. Nichts dergleichen ist geschehen. Ruselka hat sich überhaupt nicht verändert. Sie sah auch heute Morgen noch genauso schön aus, wie gestern. Lediglich ihr Blick auf sich hat sich geändert, denn es wurde von den fehlenden Blicken der anderen einfach korrigiert. Sie sah nur noch Fehler, die Gründe, für die fehlende Bewunderung.

Was sollte sie jetzt machen? Sie konnte doch unmöglich so hässlich unter die Menschen gehen! Mit diesem Gedanken beging Ruselka, wie so viele andere eigentlich auch immer, einen groben Fehler. Sie vergaß, dass sie nur Luft war und es folglich vollkommen egal war, wie sie die große Bühne der Geschäftigkeit betrat. Solch ein Vergessen kann schlimme Folgen haben.

„Ich brauche Zeit!“, dachte sie und rief im Büro an. Sie sagte, sie bliebe für drei Tage zu Hause. Sie mochte die Zahl drei. In drei Tagen kann viel geschehen. Sogar eine Auferstehung.

Erschöpft von den ersten schweren Stunden des Tages legte sie sich auf ihr Sofa und wollte überlegen. Doch statt Überlegungen machte sie sich Gedanken.

Und jeder dieser Gedanken kreisten um die verlorenen Blicke der Anderen.

Ruselka spürte zu gut, dass ein Leben ohne diese Blicke für sie überhaupt gar keinen Sinn hätte. Die Blicke der anderen waren der Rückgrat ihres Lebens. Alles, was sie in ihrem Leben tat, tat sie für die Blicke der anderen. Ihr Leben sollte glänzen und blenden. Ihr Leben sollte die anderen betören, verführen, verlocken. Aber wozu all die Müh´, wenn es keiner sieht? Keiner hört? Was sollte sie mit ihrem Meisterstück, mit ihrem Bild, dass auf den Blicken der anderen beruht, anfangen?

Die Stunden vergingen und Ruselka lag noch immer auf ihrem Sofa. Es plagte sie kein Hunger, kein Durst, dafür aber der Gedanke um ihr verlorenes Leben. Dann stand sie auf und schleppte sich zu ihrem Schrank. Mit letzter Kraft holte sie ihr Fotoalbum und ließ sich auf einem ihrer Küchenstühle nieder. Wehmütig blätterte sie in ihrem Leben. Es waren wundervolle Bilder eines wunderbaren Lebens! Dicke Tränen rollten über ihr schönes Gesicht. Ja, Ruselka war am Ende. Ihr Leben hatte so keinen Sinn mehr.

Doch sterben wollte sie noch nicht. Dazu war sie einfach zu jung.

Die drei Tage vergingen. Ohne Ergebniss.

Am vierten Morgen stand sie nicht mehr vor dem Spiegel. Wozu auch? Sie zog sich irgendetwas an und ging auf die Straße. Die Blicke der anderen suchte sie nicht mehr. Sie war ja nur Luft. Luft auf der Straße und Luft im Büro. Keiner nahm sie wahr, keiner reagierte auf ihre Anwesenheit.

Ruselka entschloss ihr Luftleben zu akzeptieren. Eine bessere Lösung fand sie nicht.

Doch das Leben als Luft ist, obwohl Luft kaum Gewicht aufweist, nicht leicht. Es ist schwer. Die meisten Menschen zerbrechen sogar unter der unerhörten Last der Luft.

Aber Ruselka kämpfte mutig und mit all ihrer Kraft gegen dieses Ungeheuer, doch sie musste kapitulieren. Sie wurde schwer krank. Dunkle Gedanken thronten auf ihrem Gemüt. Ihr Körper wurde immer weniger, ihre Haare immer länger. Es vergingen Wochen und Monate. Vielleicht auch Jahre. Ruselka aber konnte sich nicht mehr erholen. Das Leben als Luft entpuppte sich als Mühlstein, der sie langsam aber sicher zermürbte.

Ja, diese Geschichte, die sich weltweit milliardenfach ereignet, ist eine wahre Tragödie, aber nicht, wie jetzt viele denken mögen, weil Ruselka als Luft sterben musste. Nein, die Tragik ist ein ganz andere. Es ist die dem Menschen in die Wiege gelegte Unreife. Es ist die Unfähigkeit dem eigenen Bild gegenüber gleichgültig zu bleiben. Die Blicke der anderen sind uns wichtiger als unser eigenes Leben.

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